Kerzensucht
Wir können nach allem süchtig werden, was unter „Genussmittel" läuft. Meine Mutter war süchtig nach Kerzen und steckte sich zum Frühstück eine an - auch an hellsten, heißesten Tagen. Großonkel Wilhelm hingegen war süchtig nach Zigarren wie Sigmund Freud und Heidegger und steckte sich diese vom ersten Badezimmerbesuch morgens bis zur Restzeitung im Bett abends an.
Cousine Claudia ist süchtig nach life gesungenen Liedern und kommt aus ihrem halblauten Gesumme nicht mal am PC heraus. Peter, ihr Freund sagt, sie summe und lautiere auch beim Küssen und dessen Folgen. Poppiges, Lyrisches, Jahreszeitliches. Derzeit höre er beim Liebesleben durchweg Weihnachtliches.
Zurück zur Kerzen-Sucht. Sie begann mit unseren Vorvorvorfahren in der Altsteinzeit, als unsere Vorfahren noch Cro-Magnon-Menschen hießen. Wenn wir einen Cro-Magnon fänden - wie den dagegen vergleichsweise jugendlichen Ötzi - dann wäre er 30 000 Jahre alt, älter als der homo sapiens. Diese ersten Kerzen-Nutzer steckten Faserbündel in geschmolzenes Tierfett - und siehe da: Angezündet gaben diese Vorläufer der Kerzendochte Licht: Langes Licht und vor allem gleichmäßiges!
Die ersten Lampen folgten: Flache Steine mit Vertiefungen darin für die lichtspendende Tierfett-Suppe mit dem Faser - und Haarbündel mittendrin. Mit Töpferei und Ölbaumzucht rund ums Mittelmeer schenkten wir uns die Öl-Lampen-Kultur. Friederikes Studienfreundin in Göttingen einerseits und andererseits jener reiche Reeder in Hamburg sind süchtig nach deren Flammen. Von beider Zimmerdecken und aus jeder Ecke bis ins Klo leuchtet es um die Wette. Bei dem Reeder stinkt es auch. Weil der uralte, originale Lampen sammelt und brennt. Und je älter - desto stinkender.
Der Siegeszug heutiger Kerzensucht ging weiter, als man entdeckte, wie viel heller und länger Licht leuchtete, wenn um die Tülle der Öllampen Papyrus gewickelt war. Noch heller leuchtete das Licht in der Finsternis der Welt, als die Römer den Docht in ölgetränktes Papier wickelten, später das Papier auch noch wegließen und dafür dem nackten Docht einen Mantel aus Tierfett anzogen. Unsere heutige Kerze war geboren und ihre Verwandtschaft mit Papier (Papyrus) zeigt sich im Namen: ,,Kerze" hängt mit dem lateinischen „charta" = Papierblatt zusammen (siehe auch ,,Karte" und „Karton").
Meine Mutter zündete ihre Tausende von Kerzen in ihren vielen Lebensjahren in allen Jahreszeiten an, um sich zu erinnern an das Licht des Lebens". Und um sich zu Weihnachten daran zu erinnern, was die liedersüchtige Claudia dauernd trällert, weil sie in der Kantorei besonders nach Weihnachtsoratorien süchtig ist: „Das ewig Licht geht da herein - gibt der Welt einen neuen Schein...". Für diese Art Licht und ihr Kerzenlicht waren und sind Menschen glatt bereit zu hungern. Nicht nur in Nachkriegszeiten.
Die Römer nutzten ihre Kerzenvorräte in Notzeiten anders: Sie aßen sie auf. Dann saßen sie zwar im Dunkeln, waren aber satt.
Ich gehe jetzt einkaufen. Kerzen. Im 1500er-Stück-Container sind sie günstiger und Christine verbraucht zusammen mit ihrer Bevenser Filiale noch mehr als meine Mutter. Kerzen zur Rehabilitation von Leib und Seele. Ganzjährig und jetzt besonders.
14.12.2004